Ventraler Vagus: Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Verbundensein
Ventraler Vagus und Urvertrauen
Die eigenen Erziehungs- und Beziehungsgeschichte verstehen
Menschsein, ein menschliches Miteinander, das ist eine tiefe Sehnsucht in jedem von uns.
Wir kommen auf die Welt und sind auf der Suche nach Geborgenheit und Sicherheit. Sind wir doch als Säugling und Kleinkind von den Erwachsenen in unserem nächsten Umfeld abhängig. Wenn wir Glück haben, haben wir Eltern, die mit Ruhe und Gelassenheit wie eine Art sichere Basis da sein können. Sie sind hoch empathisch, geben Halt und Sicherheit, indem sie ihr Kind körperlich wie emotional nähren. Gleichzeitig geben sie der kindliche Neugier, dem Sich-selbst-Entdecken Raum. Wenn wir das leben würden, wüssten wir (und unser Nervensystem) auch als Erwachsene, was Urvertrauen bedeutet.
Doch schauen wir uns unsere eigenen Eltern oder Großeltern an und gehen wir noch weiter in der Geschichte zurück, verstehen wir, warum viele Erwachsene mit sich selbst kämpfen und / oder auch viele Gefühle abgespalten haben. Das alles ist ein Schutzmechanismus (den wir meist als Blockade bezeichnen) und dient dem Überleben, psychisch wie physisch.
Erst, wenn wir ein Nervensystem haben, was sich nicht nur im dorsalen Vagus (Erstarrung und Ohnmacht) oder Sympathikus (Dauerstress und Getriebensein) befindet, sondern auch im ventralen Vagus (kreatives Miteinander und in der eigenen Präsenz sein), dann fühlen wir uns nicht mehr dauerhaft im Funktionsmodus des Alltags, sondern erleben uns mit wohligen Gefühlen mit uns selbst.
Aus der Geschichte der Pädagogik verstehen lernen
Kinder mit ihren Bedürfnissen und ihrer Individualität in den Fokus der Pädagogik zu stellen ist relativ neu, ebenso die Literatur, Konzepte und praktisch gelebte Modelle hierzu. Bis in die 1970er Jahre war die Pädagogik davon geprägt, den Willen des Kindes zu brechen und es für das Leben abzuhärten. Durch die Idee der anti-autoritären Erziehung (oder auch eher nicht Erziehung) wurde dieses Vorgehen abgelöst. Das Gegenteil von Strenge, Angst und Druck als Erziehungsmittel war damals, Kinder sich fast komplett selbst zu überlassen und so gut wie keine Grenzen zu setzen. Heute wissen wir, dass das für Kinder ganz sicher emotional genauso eine absolute Überforderung bedeutet und nichts mit Räumen zu tun hat, in denen sich Urvertrauen und ein gutes Gefühl zu sich selbst entwickeln kann.
Die Kunst besteht darin, die richtige Balance zu finden. Räume zu schaffen, in denen Kinder sie selbst sein dürfen und sich dabei geborgen und sicher fühlen. Aber wie soll das ohne Erwachsene gehen, die selbst diese positive und stärkende Erfahrung gemacht haben?
Wegweisend sind die Erkenntnisse aus der Polyvagaltheorie von Stephen Porges. Wenn du hier tiefer eintauchen möchtest, kann ich dir das Buch ‘Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung’ ans Herz legen. Gopal Norbert Klein erklärt zum einen die Polyvagaltheorie sehr anschaulich und gibt Ideen und praktische Tipps, wie das Erleben von Sicherheit und Entspannung in Beziehungen gelingen kann.
Neue Werte und Entschleunigung für ein menschliches Miteinander
Wenn wir als Gesellschaft (und jede*r von uns ist Teil dieser Gesellschaft) wieder ein menschliches Miteinander leben wollen, kommen wir nicht darum herum, den irren Druck herausnehmen, der für die meisten von uns im Alltag normal ist. Sei es der Erfolgs-, der Zeit-, der Beliebtheits-, der Leistungsdruck (der ja schon in der Schule enorm geworden ist) und dieser undefinierbare Druck durch social media sich ständig zu vergleichen plus die daraus entstehende Reizüberflutung.
Entwicklungsbiologisch ist unser ventraler Vagus vor mehreren Tausend Jahren entstanden. Das heißt, dass wir Menschen schon lange dazu fähig sind ein soziales Miteinander zu leben und auch für Kreatives und Künste wie Musik und Malerei zu begeistern sind. (Dies wird gerade von den neuesten archologischen Funden und Interpretationen bestätigt). Im ventralen Vagus sein bedeutet, eine entspannte Gesichtsmimik zu haben, sich von Herzen uns selbst und anderen öffnen zu können, sich im eigenen Körper präsent und wohl zu fühlen und anderen Menschen dadurch authentisch begegnen zu können - ohne emotionale Maskerade, ohne Schaulaufen, ohne Selbstdarstellung, sondern in ehrlichem Dasein.
Es ist Zeit für neue Werte und Entschleunigung, wenn du dich aus dem Überlebensmodus mehr im Wohlfühlmodus des ventralen Vagus erleben möchtest.
Entschleunigung, sich Zeit zu nehmen für die wesentlichen Dinge und die Menschen und Beziehungen, die dich nähren, ist mit der wichtigste Schritt, wenn du dich wieder wohlfühlen möchtest in deiner Haut. Das hat uns so gut wie keiner vorgelebt und daher bedeutet dies Neuland für nahezu jeden von uns. Und es bedeutet in unserer schnell drehenden Leistungsgesellschaft noch gegen den Strom zu schwimmen.
Es lohnt sich mit Neugier in kleinen aber realistsischen Schritten zu entdecken, was dir wirklich gut tut. Realistisch bedeutet hier, dich selber immer besser kennenzulernen, ehrlich zu dir selbst zu sein und auch den Mythos gehen zu lassen, immer gut drauf sein zu müssen.
Wir passen uns schon viel zu früh an und halten unerwünschte Gefühle zurück. Je nach Umgebung kann dies bedeuten, eigene Emotionen oder Talente zu verstecken und eigene Bedürfnisse zu verleugnen. Das ist das Drama unserer heutigen Gesellschaft und Folge, dass wir uns zu früh und zu schnell als Kinder angepasst haben und so im chronischen Stressmodus gelandet sind. Das zu verstehen und zu begreifen, welche tiefen Muster und Programme dich und mich behindern, die eigene Lebendigkeit zu leben, ist vielleicht eine sehr schmerzhafte Erkenntnis, aber heilsam, wenn du dich auf deinen Weg zu dir selbst machen möchtest.
Impuls - eigene Werte finden:
Was sind deine 3 wichtigsten Werte?
Welche davon lebst du schon?
Welche möchtest du noch mehr leben?
Wichtig: Beim Finden und Leben deiner Werte sei liebevoll mit dir. Du darfst dies als Prozess sehen und je nach Lebensphase deine Werte neu definieren.
Selbstregulation deines Nervensystems
Selbstregulation bedeutet in stressigen Phasen wieder relativ schnell in die Entspannung zu kommen. Die richtige Balance im eigenen Nervensystem zu finden kann je nach den vorliegenden chronischen Stressoren (vor allem aus der Kindheit) ein längerer Weg sein. Bitte mache dir hier keinen Druck, sondern sieh es spielerisch und ähnlich, als würdest du eine neue Sprache lernen. Dein Körper, konkret dein Nervensystem, freut sich über ein auf dich indviduell abgestimmtes Trainingsprogramm, um gezielt die neue Sprache der Entschleunigung und Entspannung zu verstehen und den eigenen Flow immer mehr zu erleben.
Praktische Tipps für dein Trainingsprogramm:
Auszeiten mit dir, am besten in der Natur
Finde deinen kreativen Ausgleich: Schreiben, Tanzen, Malen, Singen…. probiere aus, was dir am meisten Freude bereitet
Ernähre dich mit Genuss und Freude und erlaube dir herauszufinden, welche Nahrungsmittel dir Energie geben und welche dir Energie rauben
Bewege dich und finde heraus, welche Art von Sport dir gut tut und dich so richtig lebendig anfühlen lässt
Triff dich mit Menschen und übe, da wo es passt, dich ehrlich mitzuteilen (Anleitung und Hintergrundwissen hierzu findest du in dem Buch: ‘Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung’ von Gopal Norbert Klein)
Tu das, was dir wirklich gut tut! Lerne zu unterscheiden, was dir einen kurzen Kick gibt und dich eher in Richtung Suchtverhalten führt oder was für dich echte Seelennahrung bedeutet. Bei welchen Aktivitäten, mit welchen Menschen fühlst du dich lebendig und in deiner Präsenz?
Gehe immer wieder in das Gefühl und das Erleben in deinem Körper, wie sich für dich Entspannung und Bei-dir-sein anfühlt.